Eritrea – ein Reisebericht

    Als Mitglied der Sicherheitskommission des Kantons Bern musste ich mich immer wieder mit Geldern für Flüchtlinge aus Eritrea befassen. Dann kam ich auf die Idee: Ich bilde mir eine Meinung vor Ort. Ich reiste nach Eritrea.

    Als Erstes kaufte ich eine Landkarte, welche übrigens 1995 von einem Schweizer Rotkreuzmitarbeiter injiziert und vom geografischen Institut der Uni Bern erstellt wurde. Dann zeichnete ich meine Eritrearundreise ein, rechnete die Tagesstreckenkilometer aus, die ich zum Teil mit dem Fahrrad zurücklegen wollte. Ein ehemaliger Fussballspieler der Nationalmannschaft von Eritrea und heutiger Fifa-Schiedsrichter war bereit, mir ein Velo zur Verfügung zu stellen.
    Leider kam dieses Vorhaben aber aus verschiedenen Gründen nicht zu Stande: Im Hochland begann gerade die Regenzeit und auf der Strecke von der Hauptstadt Asmara (2300m über Meer) nach Massawa verkehren Lastwagen, welche die Bodenschätze zum Hafen am roten Meer transportieren. Deshalb wäre diese Strecke gefährlich gewesen. Auch war mein Programm sehr gedrängt, so dass ich schlussendlich froh war, mit einem Auto reisen zu können.

    Meine anfängliche Enttäuschung verflog auch bald, denn ich durfte bei den Ministern und Sportfunktionären auf der grossen Tribüne am Volksfest «Giro Asmara», einem wichtigen Velorennen, dabei sein. Hunderte von Zuschauern beklatschten die Radsportler, und Frauen brauten Kaffee und boten uns in grossen Körben Popkorn und Getreidekörnermischungen an.

    So ging es los
    Vor meiner Abreise nahm ich Kontakt mit Eritreern auf, welche sich schon lange in unserem Land befinden. Wie nach «Schneefallprinzip» erhielt ich Adressen von Einheimischen, Spital- und Schulleitenden. Auch Reisebegleiter empfahlen sich, denn ein solches Gesuch würde sie vom Nationaldienst dispensieren und ihnen einen zusätzlichen Verdienst ermöglichen.

    Jetzt galt es noch ein Visum bei Rufael auf dem eritreischen Konsulat in Genf zu beantragen und einen Flug zu buchen. Obschon auf der Landkarte in den Städten Hotels eingezeichnet sind, war es nur in der Hauptstadt Asmara möglich, eine erste Nacht via Internet zu buchen.

    Auch wurde ich von der Mitteilung enttäuscht, dass einige meiner Wunschdestinationen aus Sicherheitsgründen nicht besucht werden könnten. Mein Freundeskreis und meine Familie machte sich sichtlich Sorgen über diese abenteuerliche Reise in den «Schurkenstaat», wo hunderte von unbescholtenen Bürger verschwinden würden. Meine Enkelin verkleidete sich und wollte mir ihr «Schutzengelbild» auf die Reise mitgeben.

    Ein erstes «Selam»
    Als ich in Dubai das Flugzeug nach Asmara bestieg, kam ich mir als einzige Weisse ohne Kopftuch oder Niqab wie eine Exotin vor. Die Reisenden waren voll bepackt mit Plastiktaschen, Koffern – wie sich später herausstellte, waren dies Waren, die in Eritrea in kleinen Läden oder auf der Strasse verkauft werden.

    Ich kam morgens um 6.30 Uhr in Asmara an, bezog ein Zimmer im zur italienischen Kolonialzeit erbauten «Albergo Italia» und suchte nach Möglichkeiten, «Opfer» für meine vorbereiteten Interviews zu finden. Ich setzte mich zu meist jungen Eritreer auf die Treppe zur orthodoxen Kirche, ins Asmara Caffe oder stellte mich zu Wartenden an eine Bushaltestelle. Meist trafen mich misstrauische Blicke.
    Doch schon mit dem Wort «selam» (salü) war meist das Eis gebrochen. Sagte ich als nächstes, dass ich aus der Schweiz komme, strahlten die Augen der Gesprächspartner. Ja, sie hätten Freunde, Verwandte im «heaven Schweiz» oder im «Paradise Schweiz» und die hätten gute Jobs und würden viel Geld verdienen.

    Dann erwähnten sie aber auch, dass an der Grenze zu Sudan Kleinbusse bereitstehen würden und viele eritreische Familien Geld für Schlepper sammeln, und dann die jungen Eritreer ins Ausland «verdingen» würden. Auch bereits in der Schweiz wohnhafte Verwandte würden finanzielle Hilfe leisten, damit Schlepper bezahlt werden könnten. Die Familienangehörigen hofften, dass die «Verdingkinder» in der Schweiz möglichst schnell zu Geld kommen oder ein Familiennachzug möglich würde. Immerhin besser als der Nationaldienst, sagen sie.

    Das Leben im Alltag
    Der viel diskutierte Nationaldienst sieht folgender Massen aus: Nach 12 Schuljahren kommen die Jungen nach Geschlechtern getrennt in eine halbjährige Militärausbildung nach Saua. Nach diesen sechs Monaten gehen alle ein halbes Jahr am selben Ort zur Schule und schliessen danach mit einer Prüfung ab.
    Die ca. 20% Besten dürfen ein Studium beginnen, die ca. 30% Schlechtesten werden dem Militärdienst zugewiesen und die Mehrheit dazwischen wird je nach Fähigkeit im Nationaldienst, das heisst in vom Staat geschaffenen Jobs wie Büro, Servicepersonal oder in Kleinunternehmen eingesetzt.

    Dies führt dazu, dass es kaum Arbeitslosigkeit gibt, dass alle genug zu essen und Zugang zu frischem Wasser haben. Süchtige oder Verwahrloste habe ich keine gesehen. Was auffällt: fast alle sind gepflegt und gut gekleidet. In Internetkaffees, aber auch im Fernsehen (z.B. BBC) können Infos aus aller Welt empfangen werden, auch Mobilphone sind sehr verbreitet.

    Bei Besuchen in Schulen und Spitälern oder Gesundheitszentren in ländlichen Gebieten konnte ich mich von einer hohen Qualität überzeugen. Die Kindersterblichkeit ist im Vergleich zu anderen Afrikanischen Ländern sehr niedrig, Masern und Polio sind ausgerottet. Gesetze verbieten Genitalverstümmelung von Mädchen und die Verheiratung von unter 18-Jährigen.

    Es besteht Religionsfreiheit: Christen und Muslime (je ca. 50%) leben friedlich zusammen, und das soziale Gefälle ist gering. Mit über 600 Stauseen und Bewässerungsanlagen wird der Anbau von Getreide, Mais, Baumwolle, Gemüse und Obst unterstützt. Bodenschätze wie Gold, Silber, Kupfer, Marmor, Eisen, Salz sind reichlich vorhanden.

    Meine Schlussfolgerung: Mission Friede
    Auf dem Land finden überall Märkte statt, der attraktivste ist in Keren. Dort werden vor allem auch Tiere gehandelt. Mein einheimischer Guide kaufte sich eine Ziege. Sie sollte mit den vier Beinen zusammen gebunden im Kofferraum drei Stunden lang transportiert werden.

    Ich konnte mich durchsetzen, dass sie neben mir im Auto stehen durfte und für ihre letzte Reise Futter und Wasser bekam. Am Abend wurde die ganze Sippe zum Festessen eingeladen. Die Zusammengehörigkeit in den Familien ist zentral. Deshalb ist für mich die tragische Trennung der Kinder von ihren Eltern, ihrer Heimat und Kultur, sowie die Risiken auf der langen Reise unerträglich geworden.
    Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und vor allem die USA und die westlichen Industrieländer dürfen nicht mehr länger wegen ihren Grossaufträgen im riesigen Land Äthiopien (99 Mio. Einwohner), den kriegerischen Attacken gegen das kleine Eritrea (ca. 4 Mio. Einwohner) tatenlos zusehen.

    Die Schweiz muss das traurige Verdingkinderwesen stoppen und damit den Schleppern das Handwerk legen. Mit finanzieller Hilfe vor Ort, zum Beispiel mit der Einführung unserer dualen Berufsbildung, müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen.

    Sabina Geissbühler-Strupler

    ________________________________________________________________________Zur Person: Sabina Geissbühler-Strupler ist Primar- und eidg. dipl. Turn- /Sportlehrerin und freie Journalistin.

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