Um die Klimaziele zu erreichen, ist es sinnvoll, weiterhin auf die Kernenergie zu setzen. Das Problem der Endlagerung ist lösbar. Der Schweiz ist zu raten, an ihrem bewährten Energiemix festzuhalten.
So sieht es in einer typischen Frühherbstwoche in der Schweiz aus (Grafik oben). Kernenergie und Wasserkraft, beide CO2-arme Erzeuger, dominieren das Netz, Spitzen wurden mit eigener Pumpspeicherleistung und Stromimporten ausgeglichen, unter anderem auch Atomstrom aus Frankreich. Man könnte eigentlich mit Blick auf die Schweiz und die Klimaziele einer Elektrizitätswirtschaft sagen, never change a winning team.
Die Schweiz steht angesichts ihres Atomausstiegsbeschlusses vor der grossen Frage, womit das nukleare Drittel ersetzt wird, das bereits jetzt mit 12g / kWh (IPCC) CO2-Last jede Anforderung des Weltklimarats an eine Klimaschutz-konforme Stromerzeugung erfüllt. Der schweizerische Energieplan besagt, vor allem mit Photovoltaik (PV) und Wasserkraft. Auch in der Schweiz kämpfen jedoch Wasserkraft-Erweiterungsprojekte und Windkraft-Projekte mit Einsprachen. Die Photovoltaik dürfte auf weniger Widerstand treffen, birgt aber andere Probleme. Gleichzeitig wird das Geschäftsmodell der Schweizer Wasserkraft durch Dumping-Windstrom aus Deutschland bedrängt, wenn die dortige Wetterlage das zulässt – auch das ist kein Anreiz für Wasserkraftprojekte. Wird also die Schweiz in eine Erdgasfalle rutschen, wie es sich in Deutschland bereits ab- zeichnet?
Der Energiemix Deutschlands ist trotz 20 Jahren Energiewende weit dreckiger als jener der Schweiz, die Deutschen stehen also unter weit mehr Dekarbonisierungsdruck. Der Hauptgrund ist die Grundausrichtung der deutschen Energiewende: Deren erklärtes Hauptziel war der Atomausstieg; Klimaschutz war lange Jahre nur ein Nebenziel. Und genau das bricht dem deutschen Klimaziel nun den Hals.
Trotz einer radikalen Erosion des Anlagenbestandes seit 2000, be- sonders aber seit dem Ausstiegsbeschluss von 2011, macht die Kernenergie immer noch 12 Prozent der deutschen Stromversorgung aus. Die Rest-Inseln der Kernenergie in Deutschland produzieren so viel Strom wie die ganze in 20 Jahren und mit vielen Milliarden Euro Subventionen errichtete Photovoltaik. Überdies so viel wie die Hälfte der Windstromproduktion, die man ebenfalls in 20 Jahren mit vielen Milliarden Fördergeld errichtete. Wir sehen ausserdem einen deprimierend hohen Fossilanteil, der von heimischer Braunkohle, importierter Steinkohle und importiertem Erdgas bespielt wird.
Falsche Reihenfolge beim Ausstieg
Den müsste man unter Klimaschutzgesichtspunkten also zuerst reduzieren. Doch was macht man? Man steigt aus der Kernenergie aus. Am 1. Januar 2023 wird kein deutsches KKW mehr am Netz sein. Deutschland wird dann pro Jahr 60 TWh weniger CO2-armen Strom produzieren und 8,5 GW weniger gesicherte Leistung im Netz haben. Jeder kann sich angesichts der langen Planungs- und Bauphasen auch im Bereich der deutschen Windkraft und angesichts der Nichtexistenz von Stromspeichertechnologie im Industriemassstab ausrechnen, dass diese Aktion erst einmal eine Lebensversicherung für Fossilkraftwerke sein wird.
In Deutschland werden daher, ähnlich wie in der Schweiz, immer mehr Zweifel an der Ausstiegsreihenfolge laut: Deutschland hätte zuerst aus der Kohle und danach aus der Atomkraft aussteigen müssen statt umgekehrt, um die immer ehrgeizigeren Klimaziele zu erreichen. In der Schweiz macht man sich zunehmend darüber Gedanken, wie es denn ausgehen soll, wenn der solide Sockel an Kernstrom fehlt.
Auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger in beiden Ländern fragen sich, ob es sinnvoll ist, inmitten einer von allen Politikern beschworenen Klimakrise ausgerechnet aus einer Stromerzeugung auszusteigen, die nicht nur CO2-arm ist, sondern überdies für gesicherte Leistung sorgt. In Deutschland, das anders als die Schweiz über keine nennenswerten Wasserkraftreserven verfügt, stellt sich diese Frage akuter denn je: Können wir die Transformation schaffen – und dabei ein Industrieland bleiben?
Die deutsche Bundesregierung hat vor dem Hintergrund des «European Green Deal» die Ziele der Reduzierung von CO2-Emissionen nochmal verschärft: 65 Prozent im Jahr 2030 und 95 Prozent im Jahr 2050 gegen- über 1990. Diese Zielverschärfung hätte aufgrund von zunehmender Elektrifizierung einen enormen An- stieg des Bruttostrombedarfs zur Folge. Nicht von ungefähr steckt daher in allen Energiewendeszenarien ziemlich viel ganz banales Erdgas für eine ziemlich lange Zeit.
Die falsche Vorstellung von «sanften» Erneuerbaren Werfen wir einen Blick auf die rein materiell-ökologische Seite der Geschichte. Das ist umso notwendiger, als wir in unseren Energiediskursen immer wieder feststellen, dass Materialbedarf, Extraktionsindustrien, Massenströme und Eingriffe in Landschaften überhaupt keine Rolle zu spielen scheinen, sobald die Rede auf PV-Anlagen und Windparks kommt. Kaum jemand reflektiert, dass Windparks eine gewaltige Zusatzlast auf in der Regel schon vorbelastete Landschaften und ihre Biodiversität darstellen. Stattdessen hat sich eine Vorstellung von gleichsam «sanften» Erneuerbaren in den Köpfen unserer Bürger etabliert, während ihnen beim Stichwort AKW natürlich nicht die minimalinvasiven Anlagen wie Gösgen im Leistungsbetrieb vorschweben, sondern Fässer mit monströsem Atommüll, Uranabbau-Halden und Reaktorexplosionen in der Sowjetunion und Japan.
Das deutsche Kernkraftwerk Isar-2 erzeugt jährlich rund 12 Terawattstunden Strom. Kernenergie hat eine ähnliche CO2-Bilanz wie Wind- kraft, laut IPCC 12g CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde. Will man die Stromproduktion von Isar-2 durch moderne 5-MW-Windkraftanlagen mit bis zu 160 m Nabenhöhe, rund 160 Meter Rotordurchmesser und bis 230 Meter Gesamthöhe erledigen lassen, müssten wir bei der durchschnittlichen Arbeitsverfügbarkeit von Onshore-Windkraftanlagen 1245 Anlagen errichten. Das ist eine ganze Menge Beton, Stahl, nicht recyclebarer Carbonfaser- Verbundstoff, diverse Metalle und Seltene Erden. Die Rohstoffe wer- den zumeist aus Extraktionsindustrien in Asien bezogen, deren Arbeits- und Umweltbedingungen schlechter dastehen als im häufig geschmähten Uranabbau. Be- trachten wir die in der Branche üblichen Abstandsregeln, können wir berechnen, welche Fläche wir mit dem Isar-2-Ersatzwindpark belegen müssten: je nach Berechnungsgrundlage 311 bis 478 Quadratkilo- meter. Das ist im günstigsten Fall die Fläche Münchens, im ungünstigeren Fall das rund 1,5-fache davon. Oder ein Quadrat mit 17 bis 22 Kilometern Kantenlänge.
Verschärfte Klimaziele – und die Folgen
Überlegen wir uns jetzt noch, wie hoch in einem Industrieland der Dekarbonisierungsbedarf der Industrie ist. Allein die deutsche Chemieindustrie gab vor einiger Zeit ihren Bedarf mit 600 TWh/Jahr an. Das ist eine gigantische Energiemenge.
Zur Erreichung der verschärften Klimaziele in Deutschland müssten über doppelt so viel Windkraftanlagen gebaut werden als heute vorhanden sind. Das sind ca. 30’000, allerdings viele Anlagen mit kleineren Leistungsklassen. Man wird doch etwas demütig angesichts der Flächen, die damit belegt werden müssen – die Rede ist von 2 Prozent des Territoriums der Bundesrepublik. Obendrauf müssen Sie sich erst noch eine Vervierfachung der Photovoltaikanlagen auf den deutschen Dächern oder in Freiluftanlagen vorstellen.
All diese Überlegungen können natürlich auch für die Schweiz angestellt werden. Die Berechnungen der Schweizerischen Energieperspektive 2050+ (ZERO Basis 2050) erscheinen mir im Lichte der oben genannten Zahlen allerdings fast moderat. Sie gehen von einem starken Sinken des Endenergieverbrauchs von 783 auf 524 PJ zwischen heute und 2050 aus. Die Schweiz hat das grosse Privileg, «nur» ihr Drittel Kernstrom im Energiemix ersetzen zu müssen, während die Deutschen mit einem ungleich grösseren Problem konfrontiert sind. Die Steigerung des Stromverbrauchs erscheint mach- bar: 11 Prozent bis 2050. Zum Vergleich: Die deutschen Energiestudien setzen den Stromverbrauch Deutschlands für 2050 auf das Doppelte bis Dreifache an.
Nachteile der Photovoltaik
Und es wird offenbar, wie die Schweiz die Kernenergie ersetzen will: mit erneuerbaren Energien – was fast ausschliesslich über einen deutlichen Fokus auf der Photovoltaik (34 TWh) und der Wasserkraft (38,6 TWh). Doch alles steht und fällt mit der Frage, ob die Wasserkraft in klimawandelgeprägten Sommern noch dieselbe Rolle spielen wird wie heute, und ob die gesicherte, tageszeitunabhängige Kernenergie wirklich erfolgreich durch vor allem PV ersetzt werden kann. Der massive PV-Ausbau ist materialintensiv, seine Nachhaltigkeit steht in Frage, die CO2-Bilanz der PV ist viermal höher als die der Kernenergie und der Windkraft. Und droht hier am Ende gar eine Import- Abhängigkeit von fossiler Gaskraft, am Ende der deutschen? Eigentlich will man den Schweizern raten, ihren Strommix so zu lassen, wie er ist!
Die Rolle der Kernenergie in einer reformierten Klimapolitik Paradoxerweise ist zu konstatieren, dass Deutschland im Lichte der oben gemachten Ausführungen die Beibehaltung der Kernenergie eigentlich weit nötiger bräuchte als die wasserkraftverwöhnte Schweiz. Denn Deutschland liegt im CO2-armen Ranking weit hinter der Schweiz.
Doch auch für die Schweiz stellt sich die grundsätzliche Frage, warum eigentlich unter grossen Mühen eine günstige, etablierte CO2-arme Technologie – die Kernkraft – durch eine teure – die Photovoltaik nämlich – ersetzt werden soll, die zudem tageszeit- und jahreszeitabhängig ist, im Winter kaum liefert und somit auf Speichertechnologie und Netzausbau angewiesen ist wie keine zweite der erneuerbaren Energien? In einer solchen Situation sollte unideologisch abgewogen werden: Was riskieren wir, wenn wir die Kernenergie nicht mehr nutzen?
Im Falle Deutschlands ganz offen- sichtlich die Verlangsamung, eventuell auch ein Scheitern bei den Klimazielen, im Falle der Schweiz und Deutschlands auf jeden Fall eine ungeheure ökonomische Anstrengung.
Und dürfen wir das Schicksal unserer Kernkraftwerke von Unfällen im Ausland abhängig machen? Die deutschen und schweizerischen Atomkraftwerke waren und sind sicherheitstechnisch extrem robust aufgestellt und nicht mit Tschernobyl und Fukushima gleichzusetzen.
Das Entsorgungsproblem ist beherrschbar. Die Schweiz ist mit ihrer Endlagersuche wesentlich weiter als Deutschland. In Deutschland wiederum gibt es längst ein funktionierendes Endlager für hochtoxischen Chemieabfall, der nie zerfallen wird – und über den niemand redet, um den sich niemand sorgt und der keine Diskussionen auslöst. Die Aufgabe, radioaktiv strahlenden und wärmeentwickelnden Müll zu sichern, ist zwar anspruchsvoller, aber machbar. Man muss das Endlager auch nicht eine Million Jahre lang bewachen, sondern nur in der Zeit bis zum Verschluss.
Atomkraftgegner behaupten, das Geld, das für Kernenergie ausgegeben werde, stünde nicht mehr für Erneuerbare zur Verfügung, weshalb Kernenergie klimaschädlich sei. Doch was ist eigentlich unser gemeinsames Ziel? Die Bekämpfung der Erderwärmung, nicht die Etablierung der Erneuerbaren als Selbstzweck-Industrie. Richtschnur politischen und gesellschaftlichen Handelns kann nur das Klima- ziel des Pariser Abkommens sein. Wenn wir dieses, gerade in der Zeit bis zur Verfügbarkeit fortgeschrittener Speichertechnologien, mit Atomkraft schneller erreichen können als ohne, plädiere ich für ein Verbleiben in der Atomkraft.
Kernenergie entlastet Landschaften Kernenergienutzung könnte den ungeheuren Erfolgsdruck, aber auch den Albtraum des drohen- den Scheiterns von den Erneuerbaren nehmen. Vor allem aber könnte sie Druck von unseren Landschaften nehmen, die von Windkraft- und Wasserkraftausbau massiv betroffen sein werden. Denkbar ist, wie in anderen Ländern auch, ein komplementäres Energiesystem, in dem Kernkraftwerke und Erneuerbare Hand in Hand arbeiten und die immens gestiegenen Strombedarfe der Zukunft bereitstellen. Es schreit eigentlich alles nach Komplementarität – und nach etwas mehr Gelassenheit und weniger Rigorismus in energiepolitischen Fragen. Da die Schweiz das Land der Gelassenheit und Bedachtsamkeit ist, sehe ich gute Chancen, dass in Ihrem Land Fehlentscheidungen noch revidiert werden können.
Dr. Anna Veronika Wendland
Zur Person: Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin in Marburg. Für ihre Habilitationsschrift über die Kerntechnische Moderne hat sie viele Jahre in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland geforscht. Wendland bloggt bei salonkolumnisten.com über Energie- und Klimafragen und ist eine gefragte Gesprächspartnerin in der aktuellen Klimadebatte.
Dieser Artikel ist eine gekürzte und vereinfachte Zusammenfasung ihres Vortrags am Forums-Treff des Nuklearforums Schweiz am 6. Oktober 2021 in Zürich – mit der «Umwelt Zeitung» als Medienpartner.